Rassismus im Alltag
#EinwanderungslandDeutschland
In unserem Themenmonat „In Vielfalt leben“ geht es heute um die Themen Migration und Rassismus im Alltag.
Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft, viele verschiedene Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, Kulturen und Ethnizitäten sind seit Jahrhunderten nach Deutschland eingewandert.
Mehr als jede*r vierte Einwohner*in (26,7 %) hat heute eine internationale Geschichte. Viele von ihnen leben seit Generationen in Deutschland und die Hälfte aller Personen mit internationaler Geschichte haben die deutsche Staatsangehörigkeit.
Die Mehrheit der Menschen mit Migrationsgeschichte hat Wurzeln in der Türkei (2,7 Millionen). Mit 2,1 Millionen sind Personen mit polnischen Wurzeln ebenso ein großer Anteil in der Bevölkerung. Es folgen Russland, Kasachstan, Syrien, Rumänien und Italien als weitere Herkunftsländer.
Trotz des großen Anteils an Menschen mit Migrationsgeschichte in unserer Gesellschaft erleben dennoch primär nicht-weiße Einwander*innen und Kinder von Einwander*innen jeden Tag Rassismus.
Aufgrund (vermeintlich) biologisch und/oder kulturelle Merkmale werden sie als ‚anders‘ und nicht zugehörig zu Deutschland gesehen und ausgegrenzt. Dieses ‚Othering‘ zeigt sich gerade im Alltag regelmäßig.
Doch viele Menschen sehen das Problem bei Rassismus häufig bei anderen: Rassismus wird einem vermeintlich ‚rechtsextremen Rand‘ zugeschrieben oder mehr als ein Problem anderer Länder wie den USA gesehen.
Laut der Studie „Rassistische Realitäten“ haben jedoch bereits 22 % der Gesamtbevölkerung in Deutschland Rassismus-Erfahrungen gemacht. Indirekt haben sogar 49 % bzw. 45 % aller Befragten bereits von Rassismus-Erfahrungen einer anderen Person gehört oder sind selbst Zeug*innen eines rassistischen Vorfalls in Deutschland geworden.
Rassismus-Vorfälle sind somit keine Einzelfälle und finden alltäglich und in jedem Bereich der deutschen Gesellschaft statt.
Rassismus im Alltag ist dabei häufig subtil und manchmal für Menschen ohne Rassismus-Erfahrungen nicht unbedingt als solches zu erkennen. Menschen of Color und mit Migrationsgeschichte erfahren die verdeckten Bemerkungen – auch Mikroaggressionen genannt – aber häufig regelmäßig, sie sammeln sich zu einer Masse an Erlebnissen, die erdrückend und belastend auf die Person wirkt. Ein Wechsel der Perspektive, die Wahrnehmung und Anerkennung der Stimmen von Menschen mit Rassismus-Erfahrungen ist deshalb wichtig, um Rassismus entgegenzuwirken.
So kann eine einzelne Frage, woher die Person „ursprünglich“ komme bei einer einzelnen, nett gemeinten Nachfrage noch harmlos sein, wenn die Frage im Alltag aber immer wieder gestellt wird und selbst Personen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, gezwungen werden immer wieder die Migrationsgeschichte ihrer Eltern auszubreiten, entsteht eine Ungleichbehandlung von Menschen of Color. Die Nachfrage nach der Herkunft spricht ihnen die Zugehörigkeit zu Deutschland ab und setzt sie als „Fremde“ und „Andere“. Der Fragende zeigt, dass er*sie ein sehr eindimensionales, oberflächliches Bild einer deutschen Gesellschaft hat, die angeblich nur weiß sei.
Auch das Thema Sprachkenntnisse ist häufig Anlass für rassistische Äußerungen und Othering. Zum einen werden Migrant*innen vielfach dafür kritisiert, wenn sie ihre Deutschkenntnisse nicht schnell genug verbessern. Es wird dabei implizit angenommen, dass jede Person die Zeit und auch die finanziellen Möglichkeiten hat, sich intensiv mit der deutschen Sprache zu beschäftigen. Obwohl viele Menschen in Deutschland mehrsprachig leben und auch viele weiße Deutsche eine oder mehrere Fremdsprachen sprechen, wird Deutsch weiterhin als einzig mögliche Sprache zur Kommunikation gesetzt und eine einseitige Anpassung verlangt. Selbst gute Sprachkenntnisse in Deutsch werden jedoch abgewertet, wenn bspw. mit bestimmten Akzenten gesprochen wird.
Rassismus-Erfahrungen im Zusammenhang mit Sprache sind zum anderen jedoch auch bei Kindern und Kindeskindern von Einwander*innen häufig. People of Color werden dann „gelobt“, dass sie so gut Deutsch sprechen würden und sich gut integriert hätten. Dabei wird wie auch bei der Herkunftsfrage angenommen, dass „Deutsch-Sein“ ein bestimmtes Aussehen hat und das Aufwachsen und der Bildungsweg der Person of Color in Deutschland wird ignoriert. Die Deutsch-sprechende Person wird zudem gegen andere Migrant*innen und People of Color abgesetzt, womit eine Hierarchisierung von „guten“ und „schlechten“ Menschen mit Migrationsgeschichte entsteht. Wieder wird angenommen, dass allein die Person mit Migrationsgeschichte eine Verpflichtung hat, sich an bestimmte Normen anzupassen.
Die Fokussierung auf den Aspekt der Integration lässt gesellschaftliche Ausschlussmechanismen wie Rassismus gegenüber Menschen mit Migrationsgeschichte außen vor und legt die Bürde des gelingenden gesellschaftlichen Zusammenlebens allein auf die Person mit Migrationsgeschichte.
Das Hashtag #MeTwo hat diese und andere Rassismus-Erfahrungen im Alltag noch stärker in die Öffentlichkeit gerufen.
Rassismus im Alltag findet dabei in vielen verschiedenen Bereichen statt und wirkt sich auf die Bildungslaufbahn von Kindern und Jugendlichen aus, auf die Ausbildungsplatzchancen und Wahrscheinlichkeiten eines höheren Bildungsabschlusses sowie auf dem Arbeitsmarkt bei der Arbeitsplatzsuche.
Ob rassistische Ausgrenzung bei der Wohnungssuche oder Racial Profiling von Polizeibehörden, Menschen mit Migrationsgeschichte können in ihrem Alltag in jedem Lebensbereich von Rassismus eingeschränkt sein.
Darüber hinaus betreffen Diskriminierungsprozesse Menschen mit Migrationsgeschichte auf unterschiedliche Art und Weise im Hinblick darauf, ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen bzw. wie ihr Aufenthaltsstatus ist. Von der Berechtigung zur Aufnahme eines Berufs bis zur Beteiligung an politischen Wahlen kann die Teilhabe von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft gegenüber Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft deutlich eingeschränkt sein.
Menschen mit Migrationsgeschichte sind durch diese permanenten Rassismus-Erfahrungen gezwungen, sich Strategien für den Alltag zu überlegen, um mit den Mikroaggressionen und gewaltsamen Äußerungen umzugehen.
Unterschiedliche Überlegungen spielen hier eine Rolle:
Spricht man die rassistische Äußerung offen an? Ist dies überhaupt möglich, wenn die diskriminierende Person bspw. ein*e Vorgesetzte*r, der*die Lehrer*in, ein*e Polizist*in oder ein*e Behördenmitarbeiter*in ist und eventuell Konsequenzen folgen könnten?
Gibt es Freund*innen, Kolleg*innen oder andere Passant*innen, die einem Unterstützung geben werden oder bleibt man alleine in der Situation?
Ignoriert man den rassistischen Witz eines*einer Freundes*Freundin, weil man keine Energie dafür hat, sich wieder mit ihm*ihr zu streiten?
Wird die andere Person Verständnis zeigen oder abwehrend reagieren und leugnen, dass die schmerzhafte Äußerung so gemeint war?
Ist es der kleine Kommentar, der jedoch ein schädliches Stereotyp reproduziert, wert, sich mit einer fremden Person länger auseinanderzusetzen oder lässt man es lieber sein?
Wird man wieder als dünnhäutig, Spaßverderber*in und/oder zu emotional abgestempelt, wenn man aufspricht oder erfährt man sogar noch mehr Rassismus oder Gewalt?
Kann man sich in bestimmten Teilen der Stadt, auf dem Land oder in bestimmten Regionen Deutschlands problemlos aufhalten, ohne Angst vor rassistischer Gewalt haben zu müssen?
All diese Fragen und mehr stellen Menschen mit Migrationsgeschichte und People of Color sich alltäglich im Umgang mit Alltagsrassismus. Die Auseinandersetzung mit einer Rassismus-Erfahrung besteht dabei nicht nur in der unmittelbaren Situation, auch danach – egal, ob die Person sich näher mit der diskriminierenden Person auseinandergesetzt hat oder nicht – zehrt die Erfahrung an den Energiereserven. Diskriminierungserfahrungen kosten stets Zeit, psychische und physische Energie und erfordern mentale Kapazitäten, die in diesem Zeitraum nicht für andere Tätigkeiten verwendet werden können.
Die Afro-amerikanische Schriftstellerin Toni Morrison fasste das Problem von Rassismus als zeitraubende Ablenkung treffend zusammen: “The function, the very serious function of racism is distraction. It keeps you from doing your work. It keeps you explaining, over and over again, your reason for being. Somebody says you have no language and you spend twenty years proving that you do. Somebody says your head isn’t shaped properly so you have scientists working on the fact that it is. Somebody says you have no art, so you dredge that up. Somebody says you have no kingdoms, so you dredge that up. None of this is necessary. There will always be one more thing.”
Rassismus einzig allein als Problem von Menschen mit Migrationsgeschichte und People of Color zu sehen ist somit eine weitere rassistische Verhaltensweise, denn damit wird die Last, sich gegen Rassismus zu wehren und auf Rassismus-Erfahrungen aufmerksam zu machen, einseitig und unrechtmäßig auf die betroffenen Personen gelegt, die durch die Stigmatisierungen, Ungleichbehandlungen und Ausgrenzungen bereits Benachteiligungen in vielfacher Weise erfahren. Rassismus zu ignorieren, sich nur gelegentlich mit ihm zu beschäftigen, sich selbst entscheiden zu können, ob man sich darüber weiterbilden möchte oder nicht, ist ein Privileg von weißen Menschen ohne Migrationsgeschichte.
Alltagsrassismus muss deshalb als eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung gesehen werden – ob individuelle Äußerung einer einzelnen Person im Alltag oder strukturelle Ausgrenzungen in unterschiedlichen Lebensbereichen. Rassismus muss ein zentrales Thema von weißen Menschen ohne Migrationsgeschichte werden, damit die ausgeübte rassistische Gewalt, Ausgrenzung und Ungleichbehandlung von ihren Verursacher*innen aus angegangen und abgeschafft wird.
Quellen:
Sachverständigenrat für Integration und Migration (2021): Fakten zur Einwanderung in Deutschland.
Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) (2022): Rassistische Realitäten: Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander? Auftaktstudie zum Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa), Berlin.
Aladin El-Mafaalani (2016): Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund. In: A. Scherr et al. (Hg): Handbuch Diskriminierung. Wiesbaden: Springer, S. 1-14.
https://www.sueddeutsche.de/medien/metwo-sie-sprechen-aber-gut-deutsch-1.4072671