Jom Kippur – Gmar chatima tova!
Heute Abend beginnt Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, der im Deutschen auch Versöhnungstag genannt wird.
Wir wünschen all unseren jüdischen Follower*innen deshalb „Gmar chatima tova!“ („Möge deine Einschreibung (in das Buch des Lebens) gut abgeschlossen werden!“), denn an Jom Kippur endet traditionell die Bußzeit, nach der Gott über die Menschen Urteil fällt und dies in das „Buch des Lebens“ einträgt und dieses anschließend versiegelt.
Passend zu unserem Themenmonat „In Vielfalt leben“ werden wir heute hier auf dem Blog der MyWay-Stiftung beleuchten, wie Religionen den Alltag von Menschen unterschiedlich beeinflussen.
Besonders an Feiertagen unterscheidet sich der Alltag von religiösen Menschen sehr von dem nicht-religiös lebender oder andere Religionen praktizierender Menschen. Religion hat dabei nicht nur Einfluss darauf, ob ich die Synagoge, eine Moschee oder Kirche besuche, mich mit meiner Beziehung zu Gott auf unterschiedlichste Weise auseinandersetze und meine Spiritualität lebe. Je nach religiösen Bräuchen und Traditionen kann meine Religion auch Auswirkungen darauf haben, was und wann ich esse, welche Kleidung ich trage, wie und wann ich meinen Körper wasche, welche Gegenstände ich wann benutze und welche wann nicht.
So ist es an Jom Kippur üblich, die Synagoge zu besuchen, zu beten und zu reflektieren und nicht zu arbeiten. In Israel bedeutet dies zum Beispiel, dass auch Busse, Bahnen und Autos stillstehen und die Geschäfte geschlossen bleiben. Das Fest hat sich deshalb mittlerweile für viele zu einem Tag entwickelt, an dem auf den leeren Straßen Fahrrad gefahren wird.
Da Jom Kippur in Deutschland kein Feiertag ist, wird jüdischen Menschen das Praktizieren ihrer Religion dadurch erschwert. Die christliche Prägung Deutschlands bestimmt unseren Alltag und unsere Gesetzgebung, was zu erheblichen Privilegien für christliche Personen auf struktureller Ebene führt. An nicht-christlichen Feiertagen müssen sich Arbeitnehmer*innen deshalb häufig extra freinehmen. Gerade auch die Rücksichtnahme auf fastende Personen, ob jüdisch oder muslimisch, ist hier gering.
Auch an Jom Kippur selbst werden keine großen Speisen verzehrt, es wird kurz vor Sonnenuntergang des Vortrags bis zum nächsten Sonnenuntergang gefastet. Auch andere Dinge, die die fünf Sinne betreffen, sind verboten wie duschen oder Düfte von Cremes zu genießen. Der Verzicht soll allumfassend sein, damit ausreichend Buße begangen wird, weswegen auch am Körper Abstriche gemacht werden müssen. Auch Fernseher, Computer und Radio bleiben wie zum Schabbat an Jom Kippur aus.
Doch nicht jede jüdische Person fastet auf die gleiche Weise. Wer auf was verzichtet ist sehr individuell. Jüdisches Leben in Deutschland ist vielfältig und häufig auch von den unterschiedlichen Kulturen der Herkunftsländer aus Osteuropa geprägt, aus denen viele Juden*Jüdinnen eingewandert sind. Andere Juden*Jüdinnen wiederum leben säkular, feiern aber wie säkulare Christ*innen trotzdem mit ihren Familien die Feiertage.
Auch bei anderen weit verbreiteten Religionen in Deutschland wie dem Islam ist es sehr unterschiedlich, ob die Religion eine alltagsbestimmende Rolle spielt und ob es sich um eine öffentliche Ausübung der Religion oder eher private religiöse Praxis handelt.
Muslim*innen sind keine homogene Gruppe und so sind bereits Unterschiede zwischen Alevit*innen, Sunnit*innen und Schiit*innen festzustellen, bei denen manche religiöse Praktiken eine unterschiedliche Bedeutung zugewiesen wird.
Dennoch ist festzustellen, dass z.B. Muslim*innen (68,9 %) deutlich häufiger als andere Religionen (48,9%) religiöse Feste und Feiertage begehen. Auch Speise- und Getränkevorschriften werden von der Mehrheit befolgt und 57 % aller Muslim*innen praktizieren den Ramadan.
Da Speisen und Getränke jeden Tag einen großen Teil unseres Lebens ausmachen, ist hier der größte Unterschied zwischen Muslim*innen und anderen religiösen oder nicht-religiösen Personen in der Alltagsgestaltung auszumachen. Die Befolgung unterschiedlicher Vorschriften beim Essen verlangt dabei viel Planung und Voraussicht, denn nicht überall ist Essen, das „halal“ ist, verfügbar. Für Juden*Jüdinnen besteht dieses Problem ebenso, wenn diese nur koscheres Essen verzehren.
Beim Besuch religiöser Veranstaltungen hingegen sind im Durchschnitt keine großen Unterschiede zwischen muslimischen und christlichen, jüdischen oder anderen religiösen Personen zu sehen.
Die Betrachtung der Einflüsse der Religion auf den Alltag zeigt, dass für viele Personen in Deutschland die eigene Spiritualität allgegenwärtig ist. Gleichzeitig sind auch Diskriminierungen aufgrund von Religionen und strukturelle Benachteiligungen aufgrund des Glaubens häufig, sie erschweren das alltägliche Ausleben der eigenen Religion erheblich. Religiöse Vielfalt ist jedoch ein Teil von Deutschland, damit die vielen wertvollen alltäglichen Religionspraktiken zu ihrer vollen Entfaltung kommen können, heißt es deshalb über die Glaubenspraktiken der anderen zu lernen und sich dafür zu öffnen, dass nicht jede Person ihren*seinen Alltag auf die gleiche Weise leben möchte.
Quellen:
Sonja Haug/Stephanie Müssig/Anja Stichs (2009): Muslimisches Leben in Deutschland. Im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Forschungsbericht 6. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
https://www.jmberlin.de/mitarbeitende-ueber-die-hohen-feiertage