Intersex Awareness Day
Wie sähe eine Welt aus, in der die Einteilung in zwei Geschlechter keine Rolle spielen würde?
Heute ist #IntersexAwarenessDay – ein Tag, an dem weltweit mehr Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit für inter* Personen geschaffen werden soll.
Intergeschlechtliche Menschen sind Personen, deren Körper nicht der medizinischen Norm entsprechen. Diese gesellschaftlich bedingte medizinische Norm setzt fest, dass es zum einen nur zwei Geschlechter gäbe und zum anderen diese zwei Geschlechter eindeutig biologisch identifizierbar seien. Die Existenz von intergeschlechtlichen Personen beweist jedoch, dass das chromosomale, gonadale, anatomische und hormonelle Geschlecht nicht immer eindeutig zuzuordnen ist.
Durch medizinische Eingriffe werden intergeschlechtliche Personen jedoch häufig einem Geschlecht zugewiesen. Die binäre Geschlechterordnung (Mann/Frau) wird damit künstlich aufrechterhalten und fälschlicherweise behauptet, dass Weiblichkeit und Männlichkeit eindeutig bestimmbar seien. Bei vielen inter* Personen verursachen diese Eingriffe großes psychisches und physisches Leid.
Schätzungen gehen von 80.000 bis zu 160.000 inter* Personen in Deutschland bzw. einer Häufigkeit von 1:500 intergeschlechtlichen Personen zur restlichen Bevölkerung aus.
Es gibt dabei nicht nur ein ‚drittes Geschlecht‘ – das Sternchen hinter Inter* steht für die Vielfalt intergeschlechtlicher Realitäten und Körperlichkeiten, denn jede inter* Person ist auf ihre*seine eigene Weise intergeschlechtlich.
Wir möchten heute mehr Bewusstsein für Diskriminierungen im Alltag von inter* Menschen schaffen. Zentral ist dabei der Einfluss der Kategorie Geschlecht auf unser alltägliches Leben, das durch bestimmte kulturell und historisch bedingte Normen bestimmt ist.
Inter* Personen sind vielfach unsichtbar, weil unsere westlich, hetero- und cisnormativ geprägte Kultur davon ausgeht, dass es nur zwei Geschlechter gibt: Mann und Frau.
Bei jeglicher Interaktion in unserem Alltag versuchen wir deshalb unterbewusst und unwillkürlich die mit uns in Kontakt tretende Person in eine dieser binären Kategorien einzuteilen: Habe ich eine Frau oder einen Mann vor mir?
Mit dieser Norm der Zweigeschlechtlichkeit sind wir sozialisiert worden und sie ist so tief in uns verankert, dass es vielen Menschen schwerfällt, sich Menschen mit einer geschlechtlichen Identität außerhalb der zwei Geschlechter Mann und Frau vorzustellen.
Auch unsere Gesellschaft ist nach der Existenz von zwei Geschlechtern strukturiert, so gibt es häufig nur zwei öffentliche Toiletten, die nicht geschlechtsneutral sind. Unsere Sprache kennt nur weibliche und männliche Pronomen für Personen und in der Medizin ist bei vielem medizinischen Personal nicht ausreichend bekannt, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt.
Intergeschlechtliche Menschen erfahren deshalb täglich Gewalt und werden häufig pathologisiert, also als ‚krank‘ oder ‚nicht normal‘ markiert. Die inter* Bewegung kämpft deshalb seit Jahrzehnten dafür, dass inter* Personen körperliche Selbstbestimmung und vor allem genitale Integrität zugestanden wird.
Denn bei der Geburt eines inter* Kindes wurde Jahrzehnte lang und wird heute noch Druck auf die Eltern und die inter* Person ausgeübt, sich einem Geschlecht zuzuordnen. Oft wurde in der Vergangenheit die Intergeschlechtlichkeit des Kindes selbst den Eltern vorenthalten. Das Wissen über Intergeschlechtlichkeit bleibt auch aktuell häufig noch gesellschaftlich verborgen und viele Personen werden nicht darüber aufgeklärt, ob ein Eingriff tatsächlich medizinisch nötig ist. Der Zwang, sich einem Geschlecht zuordnen zu müssen oder das Verschweigen der inter* Identität des Kindes gegenüber, kann jedoch starke psychische Probleme hervorrufen. Auch können unnötige medizinische Eingriffe noch lange gesundheitliche Folgen für die inter* Person nach sich tragen.
Im Umgang mit inter* Personen im medizinischen Umfeld werden hier meist keine Selbstvertretungen von intergeschlechtlichen Menschen bzw. Expert*innen über das Thema einbezogen. Die inter* Person kann also kein positives Bild von einem Leben als intergeschlechtliche Person entwickeln und erhält nur einseitige Perspektiven. Ihre Entscheidungsfreiheit und Autonomie werden eingeschränkt.
Seit dem Jahr 2018 haben inter* Menschen nun in Deutschland die Möglichkeit, ins Personenstandsregister ihr Geschlecht als „divers“ eintragen zu lassen. Diese Option ist ein wichtiger Schritt in der Anerkennung und Sichtbarmachung von Intergeschlechtlichkeit in Deutschland.
Obwohl eine Angabe aller Geschlechtsoptionen mittlerweile verpflichtend ist, gibt es jedoch immer noch viele Organisationen und Anlaufstellen, die bis heute, ob digital oder analog, in ihren Formularen keine Option „divers“ beinhalten.
Auch herrscht viel Unwissen und Unsicherheit im Umgang mit inter* Personen, was häufig zu Diskriminierungen von inter* Personen in ihrem Alltag führt. So wurden nach einer Studie der EU-Grundrechteagentur 2020 43 % aller inter* Personen bei der Inanspruchnahme sozialer Dienste oder Gesundheitsdienste diskriminiert, 40 % von Schul- oder Universitätspersonal und 38 % bei der Jobsuche. Allgemein ist das gesundheitliche Befinden von inter* Personen aufgrund der stattfindenden Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Unsichtbarmachung sehr gering. Nur 24 % der in der Studie befragten inter* Personen befanden ihr gesundheitliches Befinden als sehr gut. Über die Hälfte der inter* Personen hat eine Langzeiterkrankung oder chronische gesundheitliche Probleme.
Seit 2021 gibt es zwar das Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung, das operative Eingriffe bei intergeschlechtlichen Minderjährigen reguliert. Die jahrzehntelange Praxis der irreversiblen Zwangsoperationen und diskriminierenden medizinischen Behandlungen haben jedoch das Vertrauen von inter* Personen in die Medizin erschüttert. Auch reicht das medizinische Verbot bei Minderjährigen nicht aus, da eine bestimmte Diagnose vorliegen muss, damit die Schutzwirkung greift. Zudem sollten auch erwachsene inter* Personen vor dem Druck auf medizinische Eingriffe bewahrt werden.
Erst wenn vergangene Opfer von unnötigen Operationen entschädigt werden und eine umfangreiche Aufklärung und Sensibilisierung von medizinischem Personal sichergestellt wird, kann die medizinische Versorgung von inter* Personen im Alltag gewährleistet werden.
Die gesellschaftliche Akzeptanz und Anerkennung von Intergeschlechtlichkeit sind hier zentral – die alltäglich so prominente Kategorie Geschlecht und die mit ihr so eng zusammenhängende Norm der Zweigeschlechtlichkeit muss dafür wieder und wieder hinterfragt werden.
Quellen:
https://www.lsvd.de/de/ct/2629-Erfahrungen-von-inter-Menschen-in-Deutschland