Das Selbstbestimmungsgesetz – Bedeutsamkeit und Missverständnisse

#TransAwarenessMonth

Das Selbstbestimmungsgesetz – vor ein paar Monaten wurden von der Bundesregierung bereits die Eckpunkte des geplanten Gesetzes vorgestellt. Danach ist eine Debatte entbrannt, die bei vielen mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt.

Missverständnisse verbreiten sich schnell und Unklarheiten bleiben bestehen, da vielfach Hintergrundinformationen fehlen und wissenschaftliches Wissen über Transgeschlechtlichkeit nicht in der breiten Gesellschaft rezipiert wird.

Wir möchten deshalb heute das Selbstbestimmungsgesetz vorstellen, um zu zeigen, was wirklich hinter der gesetzlichen Änderung steht.

Warum ist es so wichtig, das Selbstbestimmungsgesetz auf den Weg zu bringen? Welche Änderungen bringt es?

Das Selbstbestimmungsgesetz soll das sogenannte „Transsexuellengesetz“ (TSG) ersetzen, das 1980 verabschiedet wurde und die Änderung des Personenstands (Geschlechtseintrag) und des Vornamens regelt. Das TSG legt dabei fest, dass ein langer, komplizierter und kostspieliger (durchschnittlich ca. 1.868 €) Prozess durchlaufen werden muss, bei dem zwei unabhängige psychologische Gutachten vorgelegt werden müssen, bevor der Vorname und Personenstand geändert werden können. Viele trans* Personen berichten davon, wie dieses Verfahren und die damit zusammenhängenden Betrachtungen durch Psycholog*innen sehr belastend sind und viele Psycholog*innen unzureichende Kenntnisse über Transgeschlechtlichkeit haben. Bei der Gutachtenerstellung werden deshalb häufig unangebrachte Fragen gestellt, intime Details erfragt und stark stereotypisierende Annahmen getroffen, z.B. müssen bestimmte Kleidungsstile vorliegen oder bestimmte Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden, wobei nur ein sehr enges, traditionelles Bild von Männlichkeit und Weiblichkeit zugelassen wird. Trans* Personen werden damit in ihrer persönlichen Entfaltung eingeschränkt, ihre Privatsphäre wird verletzt und sie müssen sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, um die erwünschte Änderung zu erhalten.

Das Verfahren nicht zu durchlaufen ist für viele trans* Personen allerdings keine Option. Ohne Änderung des Vornamens und Personenstands kann es zu erheblichen Problemen im Alltag kommen, da die Ausweisdokumente nicht dem nach außen präsentiertem Geschlecht entsprechen. Ob beim Bezahlen an der Kasse mit Kontokarte, die den Namen eines falschen Geschlechts trägt und somit Unterstellungen von Betrug hervorrufen kann, oder bei der Suche nach Arbeit, bei der ein Zwangs-Outing durch die Dokumente eintritt – die Änderung des Vornamens und Personenstands ist eine wichtige Basis für das alltägliche Leben und verhindert, dass trans* Personen nicht zusätzlichen Diskriminierungen oder sogar Gewalt ausgesetzt sind.

Das Selbstbestimmungsgesetz würde die Hürden des TSG abschaffen – anstelle langer, teurer Gutachten wäre nur ein Besuch beim Standesamt mit persönlicher Erklärung notwendig, um den eigenen Geschlechtseintrag und Vornamen anzupassen. Weitere, im Laufe der Transition eventuell anfallende Veränderungswünsche wie medizinische Maßnahmen (Geschlechtsangleichung) werden vom Selbstbestimmungsgesetz allerdings nicht geregelt. Allein die Änderung des Vornamens und Personenstands wären betroffen.

Die gesetzlichen Änderungen der letzten Jahrzehnte (bspw. ist seit 2011 keine Sterilisation mehr nötig für die Personenstandsänderung) und der gesellschaftliche Wandel hin zu mehr Akzeptanz und Respekt haben zu einer erhöhten Sichtbarkeit von trans* Personen geführt, mehr Verständnis von Familie und Freund*innen, aber auch Vorbilder in den Medien machen Mut zu einem Coming Out und senken die psychischen Probleme von trans* Personen, die durch das aufgezwungene Verstecken entstehen.

Die erhöhte Sichtbarkeit führt jedoch auch zu mehr Menschen, die zum ersten Mal mit dem Thema Transgeschlechtlichkeit konfrontiert sind. Einige Menschen äußern deshalb bei der anstehenden Gesetzesänderung Bedenken, haben Fragen oder es bestehen Missverständnisse über Transgeschlechtlichkeit. Wir wollen deshalb über die wichtigsten Aspekte aufklären und mehr Wissen über Transgeschlechtlichkeit und die Gefahren von Transfeindlichkeit verbreiten, um der Diskussion um das Gesetz eine Grundlage zu geben.

Mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz wird von einigen Menschen befürchtet, dass eine Geschlechtsänderung willkürlich und missbräuchlich beantragt werden könnte.

Für diese Fälle haben die Gesetzgeber*innen jedoch eine Sperrfrist von einem Jahr für eine erneute Änderung eingeplant. Der Personenstand kann also nicht in kurzer Zeit mehrmals geändert werden. Grundsätzlich sind die Bedenken über Missbrauch und mehrfache Änderung jedoch unerheblich, da seit Einführung des TSG nur sehr wenige Menschen eine Änderung ihres Vornamens und Personenstands haben rückgängig machen lassen. Seit Jahrzehnten liegt der Anteil der Menschen, die diese Reversion fordern bei ca. 1 %.

Auch gibt es viele verschiedene Länder, die bereits ähnliche Gesetze eingeführt haben: in der EU haben Malta, Belgien, Irland, Dänemark, Luxemburg und Portugal bereits Selbstbestimmungsgesetze eingeführt. Auch Norwegen, die Schweiz, Argentinien, Island, Neuseeland und Uruguay haben bereits solche Gesetze. Kein einziges Land hat bisher deutliche Anstiege in der mehrmaligen Änderung des Personenstands oder Vornamens verzeichnet oder Missbrauchsfälle vermerkt. Das Selbstbestimmungsgesetz bedeutet für viele trans* Personen mehr Freiheiten, höhere Lebensqualität und erhöhte Sicherheit.

Einige Menschen haben Bedenken, dass durch das Selbstbestimmungsgesetz die Rechte und die Sicherheit von cis Frauen eingeschränkt oder verletzt werden könnten.

Hierbei geht es um geschlechtsspezifische oder geschlechtsgetrennte Räume wie Toiletten, Umkleidekabinen, Gefängnisse, aber auch Schutzräume wie Frauenhäuser, die von cis Frauen frequentiert werden. Außerdem wird befürchtet, dass Gleichstellungsquoten mit der Änderung des Geschlechtseintrags unterlaufen würden oder allgemein cis Männer darüber Positionen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft besetzen würden, die dann cis Frauen nicht mehr offenständen.

Diese Bedenken zeigen Ängste von cis Frauen, die jahrzehntelang für bestimmte Räume und Positionen kämpfen mussten und nun Angst vor einem Verlust dieses Fortschritts in der Gleichberechtigung der Geschlechter fürchten. Die Rechte und die Sicherheit von cis Frauen und trans* Personen werden dabei als scheinbar gegensätzlich und sich ausschließend gegenübergestellt.

Dabei unterliegen diesen Ängsten verschiedene falsche Annahmen.

Zum einen wird angenommen, dass cis Frauen und trans* Personen sich für unterschiedliche gesellschaftliche Ziele engagieren. Sieht man sich feministische Bewegungen für Frauenrechte und queere Bewegungen für trans* Rechte genauer an, wird jedoch schnell deutlich, dass ähnliche Ziele verfolgt werden: mehr Selbstbestimmung, z.B. über den eigenen Körper, Gleichstellung der Geschlechter, ein Ende der Marginalisierung von Personen aufgrund ihres Geschlechts und das Abschaffen von jeglicher Gewalt gegen Personen, die aufgrund ihres Geschlechts marginalisiert werden. Die Bestrebungen von trans* Personen sind somit häufig vereinbar mit den Bestrebungen von cis Frauen.

Wieso bestehen also so viele Befürchtungen bei der Zunahme der Rechte von trans* Personen?

Die Angst vor dem Betreten von geschlechtsgetrennten Räumen durch trans* Personen, besonders trans* Frauen zeigt, dass gar nicht angenommen wird, dass es sich bei trans*
Frauen um Frauen handelt. Diese Annahme entspricht einem alten transfeindlichen Narrativ, dass trans* Frauen lediglich für cis Frauen gefährliche Männer wären, die durch Täuschung und Betrug cis Frauen verletzen wollten. Das Geschlecht von trans* Frauen wird somit nicht anerkannt und die Probleme, die sich für trans* Frauen täglich stellen, können dadurch nicht wahrgenommen werden.

Denn auch trans* Frauen sind von Gewalt aufgrund ihres Geschlechts betroffen – statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit Opfer eines Gewaltakts zu werden sogar größer als bei cis Frauen. Zuletzt wurde im September eine trans* Frau in einer Bremer Straßenbahn beleidigt und verletzt. Und auch der Tod des trans* Mann Malte C. am CSD in Münster dieses Jahres hat gezeigt, dass Gewalt gegen trans* Personen in Deutschland tödlich enden kann. Trans* Personen sind somit viel häufiger von Gewalt bedroht als selbst Gewalt auszuüben – ihr Schutz und die Stärkung ihrer Rechte muss deshalb ein ebenso wichtiges gesellschaftliches Anliegen sein wie der Schutz von cis Frauen vor Gewalt.

Die Verbreitung des transfeindlichen Narrativs des „gefährlichen Mannes“, der sich als Frau ausgibt, muss beendet werden und trans* Frauen müssen endlich als Frauen anerkannt werden, damit gegen die statistisch am häufigsten auftretenden Täter*innen vorgegangen werden kann: cis Männer. Diese können mit oder ohne Selbstbestimmungsgesetz potentiell in weiblich dominierte Schutzräume eindringen, um Gewalt auszuüben und haben dies in der Vergangenheit bereits vielfach getan, auch ohne ihren Geschlechtseintrag vorab zu ändern. Trans* und cis Frauen müssen vor dieser Gewalt geschützt werden.

Auch erlangen trans* Frauen keine Vorteile, wenn sie offen als trans* leben: in vielen Lebensbereichen wie auf dem Arbeitsmarkt, im medizinischen Bereich und im öffentlichen Leben sind trans* Personen von massiver Diskriminierung und Gewalt betroffen. Die Änderung des Geschlechtseintrags bewirkt also nicht die befürchtete Bevorteilung.

Die Zusammenarbeit von cis Frauen und trans* Personen aber könnte neue Wege eröffnen und politisch und gesellschaftlich Veränderungen auf den Weg bringen, die für alle Personen, die aufgrund ihres Geschlechts marginalisiert werden, Verbesserungen bedeuten würden. Sich (Schutz-)Räume zu teilen und in ihnen zusammenzuarbeiten sollte als Chance verstanden werden, denn Autonomie, Sicherheit und Freiheit können als gemeinsame Ziele verstanden werden.

Weitere Informationen finden sich in der neuen Broschüre „Soll Geschlecht jetzt abgeschafft werden?“ des LSVD und Bundesverband Trans*, die man hier kostenlos herunterladen kann: https://www.lsvd.de/de/ct/6564-Neue-Broschuere-Soll-Geschlecht-jetzt-abgeschafft-werden

 

 

 


Quellen:

LSVD/Bundesverband Trans*: Soll Geschlecht jetzt abgeschafft werden? 12 Fragen und Antworten zu Selbstbestimmungsgesetz und Trans*geschlechtlichkeit.

https://www.belltower.news/transfeindlichkeit-in-deutschland-zahl-der-gewaltvorfaelle-steigt-127517/

https://www.tagesschau.de/inland/transfeindlichkeit-statistiken-gewalt-101.html

https://taz.de/Die-These/!5814303/

https://www.lsvd.de/de/ct/6772-alice-schwarzer-transsexualitaet

https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/gleichgeschlechtliche-lebensweisen-geschlechtsidentitaet/fragen-und-antworten-zum-selbstbestimmungsgesetz-199332

 

 

Das Selbstbestimmungsgesetz – Bedeutsamkeit und Missverständnisse

Meldung vom 14. November 2022